MATTHIAS WARKUS

FINAL OBJECT EISENHÜTTENSTADT

(deutscher Text des Vortrags: siehe unten)


Eine Stadt kann ein Zeichen sein, denn alles kann ein Zeichen sein. Damit etwas ein Zeichen ist, muss es etwas bedeuten, und zwar für jemanden (oder etwas anderes). Dieses Bedeuten ist nichts, was ohne Weiteres im Raum steht. Bedeutung wird gemacht – ein Zeichen ist dadurch ein Zeichen, dass Menschen in bestimmter Weise handeln.

Wenn wir sagen, dass eine Stadt eigentlich etwas Bestimmtes bedeuten sollte, es aber nicht tut, dann heißt das, dass es unterschiedliche Gemeinschaften von Menschen gibt, deren Handeln von dieser Stadt in unterschiedlicher Weise geleitet wird. Eine Stadt hat darüber hinaus auch ein eigenes, materielles, veränderliches Sein, das mit ihren Funktionen als Zeichen und den Menschen, die diese Funktionen ermöglichen, in Beziehung steht, aber nicht völlig von ihnen abhängig ist.

Der Vortrag versucht eine Standortbestimmung von Eisenhüttenstadt als Zeichen von und für bestimmte Gemeinschaften und für bestimmte Formen des Zusammenlebens, inspiriert von Klassikern des utopischen Denkens und im Dialog mit Piotr Zamojskis »Wandzeitung«. Den theoretischen Rahmen bietet die Zeichenphilosophie von Charles S. Peirce und die philosophische Auseinandersetzung des Vortragenden mit seinem Denken in den letzten 15 Jahren. Das »finale Objekt« eines Zeichens ist nach Peirce die organisierte Summe aller seiner möglichen Interpretationen.

Hat Eisenhüttenstadt ein finales Objekt oder was könnte das überhaupt heißen?


FINAL OBJECT EISENHÜTTENSTADT

Zeichen, Regel, Utopie


Eine Stadt kann ein Zeichen sein. Man kann sie lesen wie ein Buch, deuten wie eine Wolkenformation – oder vielleicht auch darauf reagieren wie die frostige Stimmung in einem Raum, mit der einem zu verstehen gegeben wird, dass man dort nicht erwünscht ist.

Ich möchte in meinem Vortrag heute eine bestimmte Vorstellung davon, was es heißt, dass etwas ein Zeichen ist, auf Eisenhüttenstadt anwenden. Dabei spreche ich als Philosoph, der sich seit gut fünfzehn Jahren mit Zeichentheorie und auch immer ein bisschen mit Architektur beschäftigt hat; aber nicht als Historiker oder als Stadtplaner. Eigentlich steht alles, was ich heute vortrage, irgendwie im Konjunktiv: So könnte es sein. Den Anspruch, objektive Wahrheiten vorzutragen, habe ich nicht.

Mein Vortrag hat grob drei Teile: Im ersten Teil möchte ich die verwendete Zeichentheorie erläutern. Leider ist sie nicht ganz einfach, aber ich mache es so kurz, wie es geht.

Im zweiten Teil möchte ich anhand verschiedener Beispiele aus der realen Stadtplanung, aber auch aus utopischer Literatur darüber nachdenken, wie man auf Bedeutungen von Städten im Sinne der zuvor dargestellten Zeichentheorie kommen kann.

Im dritten Teil möchte ich diese Überlegungen dann auf Eisenhüttenstadt übertragen.

TEIL 1

Der Begriff von Zeichen, den ich verwenden möchte, stammt von dem amerikanischen Philosophen Charles S. Peirce, der im 19. Jahrhundert die Grundlagen für das moderne philosophische Nachdenken über Zeichen gelegt hat. Seine Grundidee ist dabei die, dass Zeichen nicht irgendeine besondere Sorte von Gegenständen sind, sondern dass alles ein Zeichen sein kann, wenn es in einem bestimmten Verhältnis steht. Dieses Verhältnis ist kein zweiseitiges Verhältnis, sondern ein Dreierverhältnis. Etwas bedeutet etwas anderes in Hinsicht auf etwas Drittes.

In diesem dreiseitigen Verhältnis gibt es keine Hierarchie. Es ist nicht auflösbar. Die drei in Beziehung stehenden »Etwasse« nennt Peirce Repräsentamen (deutsch auch: Zeichenmittel), Objekt und Interpretans (englisch »interpretant«).

Ein einfaches Beispiel: Die Zahl 130, schwarz auf weißem Grund, in einem roten Ring eingefasst, repräsentiert das Objekt, dass Fahrzeuge auf einer Autobahn nicht schneller 130 km/h fahren oder fahren sollen, und zwar hinsichtlich des Interpretans, dass ich vor diesem Schild abbremse, wenn mein Auto schneller fährt als 130.

Der Bezug auf die drei Etwasse, die ein Zeichen bilden, kann unterschiedliche Formen annehmen.

Auf der Seite des Zeichenmittels unterscheidet man zunächst Zeichen, die eine bloße Eigenschaft oder Qualität mit dem verbindet, was sie bezeichnen. Auf diese Weise bezeichnet etwa ein Probefleck auf einem Stück Pappe eine bestimmte Farbe, die ich mir im Baumarkt nachmischen lassen möchte.

Dann gibt es Zeichen, die sich auf das, was sie bezeichnen, durch eine physische Beziehung beziehen. So steht eine Rauchsäule für das Feuer, das sie verursacht, oder der Winkel des Zeigers an einem mechanischen Fahrradtacho steht für die Geschwindigkeit des Fahrrads.

Zuletzt gibt es Zeichen, die bloß durch eine Gewohnheit, eine Konvention für etwas stehen – so wie auf einem Stadtplan ein kleiner Kreis für einen Bahnhof steht oder ein Stern für einen Aussichtsturm.

Auf der Seite des Bezeichneten können ebenfalls drei Bezugsweisen unterschieden werden:

Manche Zeichen bezeichnen ihr Objekt durch Ähnlichkeit – so wie ein Bild die darauf dargestellte Person oder ein Netzplan das U-Bahn-Netz einer Stadt. Dies nennt Peirce »ikonisch«.

Andere Zeichen bezeichnen ihr Objekt durch ein Verhältnis in Raum und Zeit. So bezeichnet ein Wegweiser den Ort, zu dem er hinführt, dadurch, dass er im Raum so ausgerichtet ist, dass seine Spitze in die Richtung des Ortes zeigt. Oder der senkrecht in den Himmel zeigende Lichtstrahl, der für eine Disco oder eine Filmpremiere wirbt, steht für den Ort, von dem er ausgeht. Peirce nennt dies »indexikalisch«.

Und wieder andere Zeichen bezeichnen ihr Objekt »symbolisch«, also durch keine notwendige Beziehung, sondern nur dadurch, dass sie auf eine beliebige Weise interpretiert werden. Gedruckte Buchstaben und Wörter sind symbolische Zeichen.

Schließlich gibt es auf der Seite des Interpretans, man ahnt es schon, genauso drei Arten von Bezügen, die ich nur kurz nennen will: Rhematische Zeichen haben als Interpretation ein Einzelphänomen, dizentische Zeichen eine einzelne Verbindung von zwei Phänomenen (zum Beispiel eine Prädikation wie »S ist P«) und argumentative Zeichen eine Regel oder Gesetzmäßigkeit.

Mit diesen Einteilungen liefert Peirce uns gewissermaßen einen Werkzeugkasten von Vokabeln, mit denen wir über bedeutungstragende Phänomene reden können. Uns erschließen sich damit möglicherweise auch Phänomene als Zeichen oder als zu Zeichen beitragend, die wir ohne diesen Kunstgriff gar nicht als solche wahrgenommen hätten.

Wichtig ist an dieser Stelle noch Folgendes: Wie aus der Diskussion der verschiedenen Kategorien hervorgegangen ist, sind nicht alle Zeichen völlig beliebig. Dass Rauch auf ein Feuer hinweist oder dass ein mechanischer Fahrradtacho abhängig von der Drehzahl des Rades ausschlägt, ist keine Sache der Diskussion. Die Zeichen, mit denen wir als Menschen hauptsächlich zu tun haben, sind aber nahezu immer zumindest teilweise von Regeln und Übereinkünften abhängig. Dass Rauch ein Feuer anzeigt, ist naturgegeben; dass wir darauf reagieren, indem wir die Feuerwehr rufen, ja dass wir eventuell sogar dafür belangt werden können, wenn wir es nicht tun, ist Menschenwerk.

Mindestens auf der Interpretansseite eines Zeichens, bei den höheren Zeichenformen tendenziell auf allen drei Seiten, spielt der Mensch eine Rolle, und zwar typischerweise in Form von Gemeinschaften. Damit ein Zeichen auf eine Regel oder eine Vereinbarung bezogen sein kann, muss es schließlich mehrere Menschen geben, die etwas vereinbart haben. Nur wenn die Gemeinschaft, die ein Zeichen nutzt, bestimmte Regeln einhält, kann das Zeichen seinem Zweck dienen. So sind Algebra oder symbolische Logik beispielsweise Praktiken, die hauptsächlich im Manipulieren bestimmter Zeichen bestehen, und die nur deswegen funktionieren, weil alle, die sie betreiben, zum Beispiel der Regel folgen, dass derselbe Buchstabe in zwei aufeinanderfolgenden Zeilen eines Beweises auch dasselbe bedeutet.

Peirce war daher der Meinung, dass »die Ethik eine Vorbedingung der Logik« sei – ohne Gemeinschaften, die gemeinsame Regeln und Werte haben, ist kein geordnetes Denken möglich.

Gemeinschaften spielen bei Peirce noch in anderer Hinsicht eine Rolle.

Für Peirce als Pragmatist fällt der Begriff von etwas zusammen mit dem Begriff der Summe der dadurch ermöglichten Handlungen. Eine Innensechskantschraube beispielsweise geht auf in all dem, was man mit ihr tun kann – man kann sie mit einem Inbusschlüssel anziehen oder lösen, man kann sie in einem Baumarkt bei den anderen Innensechskantschrauben im Regal finden, man kann sie unbrauchbar machen, wenn sie festsitzt und man mit einem falschen Schlüssel oder zu viel Drehmoment daran herumfuhrwerkt.

Dabei bedeutet »Summe der ermöglichten Handlungen« nicht, dass man einfach eine riesige Liste von irgendwie durch die Schraube ermöglichten Handlungen untereinanderschreibt, sondern die Summe soll strukturiert sein – idealerweise in Form einer sich selbst analysierenden und korrigierenden Regel. Damit sich eine Regel selbst analysieren und korrigieren kann, muss sie aber verwirklicht sein. Wir benötigen also wieder eine Gemeinschaft von handelnden und erkennenden Subjekten.

Um in dieser Weise auf den Begriff von etwas zu kommen, muss man sich vorstellen, dass eine Gemeinschaft von Forschenden mit den richtigen Werteüberzeugungen hinreichend lang, möglicherweise sogar potenziell endlos lang, daran herumermittelt.

Diese Idee taucht auch in Peirce’ Zeichentheorie wieder auf. Neben den bereits genannten Unterscheidungen gibt es dort auf einer anderen Ebene nämlich noch zusätzliche.

Peirce unterscheidet auf der Objekt- und auf der Interpretansseite zwischen »unmittelbar«, »dynamisch« und »final«. Ein unmittelbares Interpretans ist so etwas wie eine unanalysierte Wahrnehmung eines Zeichens, während ein dynamisches Interpretans eine konkrete, einzelne Interpretation ist. So ist das innerliche Zusammenschrecken, wenn jemand »Stehenbleiben!« brüllt, ein unmittelbares Interpretans, die tatsächliche Handlung des Stehenbleibens ein dynamisches. Das finale Interpretans ist die strukturierte Summe aller möglichen dynamischen Interpretantia – eben genau der Begriff als Summe aller Handlungsmöglichkeiten, wie eben beschrieben.

Auf der Objektseite ist ein unmittelbares Objekt eines, das nur in einer einzelnen, konkreten Hinsicht repräsentiert wird, ein dynamisches aber eines, das in einer gewissen regelhaften Allgemeinheit repräsentiert wird.

Das finale Objekt ist nun deckungsgleich mit dem finalen Interpretans. Da der Begriff von etwas die Summe seiner Handlungsmöglichkeiten ist und da alles ein Zeichen sein kann und man das Interpretieren von Zeichen stets als ein Handeln sehen kann, ist der Begriff von etwas identisch mit der strukturierten Summe der möglichen Interpretationen dieses Etwas als Zeichen.

Das finale Objekt, die strukturierte Summe, muss nach Peirce die Gestalt einer Regel haben, die sich selbst analysiert, also eine Regel, die in einer Gemeinschaft verwirklicht ist.

Wenn nun alles ein Zeichen sein kann und man für jedes Zeichen  überlegen kann, was die reflektierte, in einer Gemeinschaft realisierte Regel ist, die seinen endgültigen Begriff, sein finales Objekt, ausmacht, dann muss man das auch für eine Stadt überlegen können. Dabei muss man berücksichtigen, dass bei Zeichen, die in irgendeiner Weise symbolisch sind, deren Bedeutung also von Übereinkünften abhängt, die Gemeinschaft, die das Zeichen gebraucht, nicht nur seine Bedeutung erforscht, sondern diese auch erhält oder verändern kann.

Bei einer Stadt, die ja ein komplexer, veränderlicher materieller Gegenstand ist, kommt außerdem noch hinzu, dass nicht nur die Bedeutung, sondern das Zeichen selbst durch die Gemeinschaft verändert wird. Die Gemeinschaft, die die Bedeutung eines mathematischen Zeichens weiterträgt, kann diese zwar über die Zeit ändern, aber sie hat nicht die Möglichkeit, in alle Bücher einzugreifen und dort das konkrete Zeichen selbst zu korrigieren. Eine Stadt hingegen lässt sich nachträglich bearbeiten.

Es liegt in der Natur des verwendeten peirceschen Zeichenkonzepts, dass dieses finale Objekt natürlich davon abhängt, in welcher Weise, mit welcher Art von Bezug wir die Stadt in das dreiseitige Zeichenverhältnis eingehen lassen; und dass wir es, wenn überhaupt, nur näherungsweise ermitteln können.

Ich möchte im zweiten Teil dieses Vortrages anhand einiger klassischer Beispiele überlegen, welche Bedeutungen – insbesondere: welche Bedeutungen mit Bezug auf in der Gemeinschaft verkörperte Regeln – geplante beziehungsweise utopische Städte haben können.

TEIL 2

Ich betrachte in diesem Teil reale und fiktive Planstädte allein schon deswegen, weil die Wechselwirkungen von beidem unbestreitbar sind. Zudem lässt sich aus den Beschreibungen von Städten und Bauten in der utopischen Literatur in der Regel recht gut entnehmen, wofür diese als Zeichen stehen sollen.

Utopien und Planstädte haben sich bereits in Renaissance und Barock stark gegenseitig beeinflusst. Die Beschreibung der utopischen Stadt »Christianopolis« bei Johann Valentin Andreä 1619 lässt zum Ähnlichkeiten zur real existierenden Planstadt Freudenstadt im Schwarzwald, 1599 gegründet, erkennen. Das Grundkonzept eines großen zentralen Platzes mit öffentlichen Gebäuden, um den herum sich verschiedene strukturell ähnliche Wohnviertel gruppieren, kehrt auch in den folgenden Jahrhunderten in der utopischen Literatur und in Idealplänen für Städte immer wieder.

Die großen, immer wiederkehrenden Motive von Planstädten aus dieser Ära sind Geschlossenheit und Symmetrie. Die utopische Stadt ist sich selbst genug, sie ruht in sich. Bereits in Thomas Morus’ »Utopia« Anfang des 16. Jahrhunderts dominieren Geschlossenheit und Beständigkeit das Hauptmotiv der Stadtbeschreibung. Die aus Hartstein und mit besonders widerstandsfähigen und feuerfesten Dächern erbauten Häuser bilden geschlossene Zeilen um herrliche Küchengärten herum, die vier Viertel der Stadt wiederum schließen Marktplätze mit Speisehallen ein, in denen gemeinsam gegessen wird. Nach außen hin ist die Stadt von Ackerland umgeben und Morus hebt gesondert hervor, dass die utopischen Städte keine Expansionsgelüste hegen. Zu wachsen brauchen sie auch nicht, denn der Geburtenüberschuss des ganzen utopischen Reichs geht in regelmäßigen Abständen als Kolonisatoren nach Übersee.

Die Regel, für die die utopische Stadt steht, könnte man ausdrücken als: Lebt in mir so, dass ihr immer weiter so leben könnt. Das Leben in der Utopie ist ereignislose Harmonie, ein Zustand nach dem Ende der Geschichte. Alle Überschüsse, Defizite und Ungleichheiten werden durch ausgeklügelte Ausgleichs- und Rotationssysteme aufgefangen, die Lebensverhältnisse sind überall so gleichwertig, dass die Utopier regelmäßig ihre Häuser tauschen. Besonders viel Privateigentum gibt es ohnehin nicht.

Diese Regel »Lebt in mir so, dass ihr immer weiter so leben könnt« taugt tatsächlich auch zu einem »finalen Objekt« im Sinne von Peirce. Sie ist in der Gemeinschaft, durch sie und für sie verwirklicht.

Die Geschlossenheit kann sich bis ins Ideelle ausdehnen. In der »Sonnenstadt« von Tommaso Campanella aus dem 17. Jahrhundert fallen sozusagen Städtebau und Wissensmanagement zusammen: Die Gesetze des Staates und alles naturwissenschaftliche, historische und politische Wissen sind auf den Wänden des Tempels im Zentrum der Stadt und auf den sieben konzentrischen Stadtmauern aufgemalt, so dass die jungen Knaben »ohne Mühe und fast spielend« »noch vor ihrem zehnten Jahre« alles lernen, was es zu lernen gibt. Das finale Objekt der Sonnenstadt könnte geradezu sein: »Erhaltet die Dokumente unseres Wissens und gebt ihren Inhalt weiter.« Die Stadt mit ihren bemalten Mauern ist selbst ein Zeichen für alles Wissen, eine Enzyklopädie und ein Abbild des Universums. Man kann sie lesen wie ein Buch. Die Implikation ist, dass zu dem Wissen nichts mehr hinzukommt; das Ende der Geschichte hat hier sozusagen die Wissenschaftsgeschichte mit erfasst.

Einheitlichkeit, Gleichheit, Geschlossenheit und Dauerhaftigkeit spielen bei Planstädten und Utopien nicht nur auf der Ebene der Grundrisse eine Rolle, sondern auch darunter, zum Beispiel in der Gestaltung der Gebäude. Normierte, seriell gebaute Häuser sollen Ressourcen und Aufwand beim Bau sparen, aber sie repräsentieren – nach Peirce: als dynamisches Objekt – die Idee, dass alle Renovierungen und Neubauten sich an die Vorbilder zu halten haben, um die Einheitlichkeit nicht zu durchbrechen. Verallgemeinernd kann man schließen, dass die Stadt selbst zeichenhaft zu Einheitlichkeit und Konsistenz in allen Bereichen des Handelns ihrer Bewohnerinnen und Bewohner auffordert.

Noch im neunzehnten Jahrhundert findet man Utopien, die diese vollständige Einheitlichkeit zelebrieren. In Étienne Cabets kommunistische Utopie von »Ikarien« 1840 gibt es in einem ganzen Land mit Millionen von Einwohnern für jeden Gebäudetyp nur noch einen einzigen Einheitsentwurf, im Rahmen des Fünfzigjahresplans nach der Revolution durch einen Wettbewerb ausgewählt. (Der siegreiche Architekt des Normhauses wurde dadurch geehrt, dass seine Büste in jedem genormten Wohnzimmer steht.)

Die Normierung von Menschen durch normierte Planung ihrer Lebenswelt wird im zwanzigsten Jahrhundert zum Klischee. Das in früheren Utopien völlig positiv besetzte Bild von gleich gekleideten Menschen, die in gleichförmig gebauten Städten aus gleichen Gebäuden wohnen, wird zum Alptraum. Auch sonst wandeln sich die Ideale.

Die moderne Planstadt ist in der Regel, anders als kompakte Renaissance- und Barock-Entwürfe wie Freudenstadt oder Mannheim, nicht auf eine vollständige, geschlossene Symmetrie angelegt, sondern birgt Ausbaumöglichkeiten. Sowjetische Entwürfe wie beispielsweise Magnitogorsk oder Toljatti zeigen lineare Strukturen, die sich zumindest theoretisch nach Bedarf verlängern lassen.

Man muss aber nicht sonderlich in die Ferne schweifen, um solche Pläne zu finden. Die Serie der Wohnkomplexe im westlichen Teil von Jena-Neulobeda gehorcht z.B. demselben Prinzip: eine Kette von Modulen, die sich zumindest theoretisch unbegrenzt verlängern lässt.

Das utopische Denken, das sich mit solchen Entwürfen verbindet, ist bekanntlich auch eines, das (ganz gleich, ob im Kapitalismus oder im Sozialismus) Fortschritt und Wachstum zelebriert und eben nicht mehr in sich ruhende Stabilität.

Vorbilder dafür gibt es bereits vor dem zwanzigsten Jahrhundert. Der ursprüngliche Fächerplan für Karlsruhe teilt, wenn man so will, die ganze Welt um das Zentrum des Schlossturms herum in zwei Sektoren: einer innerhalb der Schlossflügel, in dem die Stadt in die Ferne wachsen kann; und einer außerhalb davon, wo Felder und Wälder erhalten werden.

Die extreme Form der Stadt als geometrisches Zeichen für eine Verlängerung ins Unendliche ist die an einem Ende offene, schnurgerade, monumentale Achse. Die repräsentativen Stadtplanungen autoritärer Regimes hatten hierfür immer eine Vorliebe, und so assoziieren wir mit großen Plänen nichtdemokratischer Staaten heute schnell das Bild breiter, autobahnähnlicher, aber ins Nichts führender Straßen. Retorten-Hauptstädte wie Yamoussoukro in der Elfenbeinküste oder Nursultan, früher Astana, in Kasachstan zeigen dieses Motiv an verschiedenen Stellen. Als finales Objekt könnte man hier eine Regel sehen wie »Folgt uns bis zum Horizont«. Das Individuum soll irgendwie zugleich als bewundernde Kulisse dienen, aber auch den Vorstoß ins Unendliche mittragen.

Lehnt man sich ein bisschen aus dem Fenster, kann man in diesem Zeichen einen von Anfang an angelegten Widerspruch erkennen, weil mit Immobilien eine Bewegung repräsentiert werden soll – analog dazu, wie in totalitären Staaten die Bevölkerung zugleich befriedet und unbeweglich gehalten wird, aber als Agitationsmasse für dynamische Zukunftsprojekte weltgeschichtlichen Ausmaßes bereitstehen soll. Die offene, unfertige Monumentalstraße steht sozusagen als Metapher für das charakteristische Zusammenspiel von Spießigkeit und Größenwahn in der Diktatur.

Auch heute gibt es natürlich noch Planstädte und hin und wieder werden noch Utopien entworfen, auch wenn sie in ihrer klassischen Form selten geworden sind. Man kann allerdings den Eindruck bekommen, dass die heute beliebteste Utopie eigentlich schon wieder eine Retrotopie ist – nämlich das lebenswerte, sanierte und weiterentwickelte Gründerzeitviertel mit geschlossenen Blockrändern, grünen Blockinnenräumen, bezahlbaren Wohnungen, Biomärkten, Coworking-Spaces, Mehrgenerationen-Spielplätzen, integrativen Kindergärten und Schulen usw. Darüber müsste man an anderer Stelle sprechen.

Um es noch einmal kurz zusammenzufassen: Reale und utopische Planstädte stellen die Regeln der Gemeinschaften, die sie bewohnen, bewirtschaften, pflegen und nicht zuletzt die Regeln selbst weitertragen sollen, zeichenhaft dar, auf der Ebene der Grundrisse, aber auch des Stadtbildes. Dabei gibt es zwei Extreme: äußerste Stabilität, Geschlossenheit und Stagnation – und auf der anderen Seite äußerste Dynamik, Fortschritt, Wachstum und Aneignung der Welt, in welcher Form auch immer.

TEIL 3

Lässt sich auf dieser Grundlage und unter Ausnutzung der am Anfang besprochenen Zeichentheorie von Charles Peirce jetzt etwas über Eisenhüttenstadt als Zeichen sagen?

Betrachtet man allein die Grundrisse des geplanten Stadtkerns, also des heutigen Flächendenkmals, findet man keine Form, der er ikonisch ähnelt. (Anders als beispielsweise Brasília, das die Form eines Kreuzes mit einem gekrümmten Balken hat, was immer wieder als Form eines Flugzeugs missverstanden wurde.) Auch regelmäßige Muster und Symmetrien wie bei einem Schachbrett oder dem Mühlebrett Freudenstadt sind nicht zu erkennen.

Auch die indexikalischen, in Zeit und Raum verweisenden Zeichenbezüge geben die simplen, völlig naheliegenden Deutungen, die bei vielen barocken, aber auch bei modernen Planungen möglich sind, nicht her. Es gibt zwar großzügige Achsen, die auf Fluchtpunkte zulaufen, aber sie sind nicht schnurgerade, sondern alle gekrümmt oder geknickt. Es gibt große Symmetrien, aber keine, die die gesamte Anlage erfassen und ordnen. Die Straßenzüge strahlen zwar aus, aber eher wie ein Bündel von Kraftlinien um das Hüttenwerk als Magnet.

Auch, wenn es genau wie in Karlsruhe eine Grundlinie gibt, an der die Stadt aufhört und ihr ökonomischer Hintergrund beginnt – bei Karlsruhe das fürstliche Jagdrevier, bei Eisenhüttenstadt das Industriegelände –: Eine Lesart wie bei Karlsruhe, das sich auf das Schloss ausrichtet und die ganze Welt um sich herum ordnet, ist in Eisenhüttenstadt rein geometrisch nicht möglich. Das gibt Paul Landons auf Eisenhüttenstadt basierender »kontinuierlicher und totaler Stadt« auch, zumindest in meinen Augen, etwas Ironisches, weil der Plan eben zunächst eskaliert und deformiert werden muss, damit er dieses Unendliche hergibt.

Zudem ist die Hauptachse Lindenallee – Zentraler Platz – Pawlowallee nicht offen, sondern auf einer Seite durch das Hüttenwerk und auf der anderen Seite durch das Krankenhaus abgefangen. Die Regel dieser Achse ist nicht »Folge uns bis zum Horizont«, sondern (wenn man das Krankenhaus als Ort für die Veteranen der Schwerindustrie sieht) eher: »Geh deinen Weg mit uns und blicke zurück auf das Geleistete«.

Eine Regel wie »Lebe hier so, dass du immer weiter so hier leben kannst« gibt Eisenhüttenstadt als ursprüngliche Anlage ebensowenig her wie eine Regel, die endlosen Fortschritt ins Weite fordert. Die halboffen gestalteten, von Portalen, Durchgängen und Blickachsen geprägten Wohnhöfe bilden zwar eine Art utopisches Geschlossenheitsmotiv; man kann darin sogar, wenn man möchte, die gegeneinander ausbalancierten, harmonisch miteinander Handel und Austausch treibenden Untereinheiten der Stadt Utopia wiedererkennen. Die stilistischen Unterschiede der Wohnkomplexe und die bei aller Gleichartigkeit durchaus auf Abwechslungsreichtum angelegte Architektur durchbrechen dies jedoch wieder. Eisenhüttenstadt ist nicht zeitlos und stagnierend gemeint, sondern zwar in sich ruhend, aber zukunftsoffen und sozusagen gemessenen Schrittes weiterschreitend.

Ebenfalls berücksichtigen muss man die besondere Situation, dass die verschiedenen Planungen für repräsentative Großbauten im Rahmen des ursprünglichen Gesamtplans weitgehend gescheitert sind. Während viele moderne Planstädte wie Brasília oder Washington, D.C., auch und vor allem als Bühne für Ensembles von spektakulären Einzelbauten fungieren, ist Eisenhüttenstadt nach wie vor eine Bühne für die Hochöfen, wenn überhaupt.

Piotr Zamojskis Projekt »Wandzeitung« verdeutlicht meines Erachtens überzeugend, dass der Plan-Kern von Eisenhüttenstadt eine Art doppelbödige Atmosphäre erzeugt: Irgendwie liegt Bedeutung und Größe in der Luft, man weiß aber nicht so recht, worauf sie sich richtet. Sie ist als Folie für beliebige Aufrufe geeignet, sozialistische und kapitalistische. (Interessant wäre es übrigens, zu sehen, ob es mit religiösen Aufrufen genauso funktionieren würde. Kann man sich Zamojskis Motive auch mit einem Bibelvers wie »Kehrt um und glaubt an das Evangelium« vorstellen?)

Wie am Anfang besprochen, sind die Bedeutungen von Zeichen abhängig von den sie deutenden Gemeinschaften, und sie können sich durch Prozesse innerhalb dieser Gemeinschaften verschieben oder verloren gehen. Im Zuge meiner Arbeit an meinen Vorträgen letztes Jahr und heute habe ich den Eindruck gewonnen, dass die realen Communitys, die Eisenhüttenstadt und seine Teile heute als Zeichen deuten, möglicherweise gar nicht so divers sind und im Konflikt miteinander liegen, wie man sich das denken könnte. Die Anlage ist sorgfältig zwischen verschiedenen Momenten austariert und vermeidet die fanatische Geste in den Raum ebenso wie die demonstrative, überlegene Geschlossenheit. Sie wiegelt eigentlich keine widerstreitenden Konzeptionen auf. Sie generiert aber, sogar wenn man die Geschichte und die Superlative (größtes Flächendenkmal Deutschlands und so weiter) auslässt, eine Atmosphäre von Bedeutsamkeit, die auch irgendwie freischwebend bleibt, weil es keine offizielle ideologische Aufladung mehr gibt und weil die monumentalen gebauten Zeichen fehlen.

Wenn man ein regelförmiges »finales Objekt« von Eisenhüttenstadt aufschreiben will, dann vielleicht dieses: »Lebe hier gemütlich und komfortabel, aber zugleich so, dass diese Stadt eine besondere Bedeutung hat.« Ich glaube, es ist auch nicht ganz falsch zu behaupten, dass dies auch für die Politik und Verwaltung hier handlungsleitend war und ist.

Und das ist schwierig – eine Instanz, die eine besondere Bedeutung dekretieren und an alle Wände malen könnte, gibt es nicht mehr, und die rein quantitativen Befunde geben die Bedeutung nicht her. »Lebe so, dass deine Stadt das größte Flächendenkmal Deutschlands hat« ist zum Beispiel kein gutes handlungsleitendes Motto fürs Leben, denn das Denkmal ist ja so oder so da.

Eisenhüttenstadt ist, so finde ich jedenfalls, interessanter als die meisten Utopien, denn dass eine Stadt so in sich ruht, aber gleichzeitig so deutlich danach ruft, ausgedeutet werden zu wollen, kann keine Utopie bieten.